Die Antarktis war noch vor hundert Jahren der letzte unerforschte Kontinent auf unserem Planeten. Das geheimnisvolle Südland verteidigte sich hartnäckig gegen Eroberung und Entdeckung. Die monatelange Dunkelheit der Polarnacht stürzte Menschen in den Wahnsinn oder die eisige Kälte ließ sie zugrunde gehen, vom Skorbut zerfressen, erfroren auf dem Eis neben dem Wrack ihres Schiffes, das sie bis zur Wasserlinie abgebrannt hatten, um das letzte bisschen Wärme herauszuholen. Sie ist der kälteste und windigste Ort der Erde, trockener als die Sahara und so kalt wie der Mars. Fallwinde rasen mit bis zu 300 km/h das Polarplateau herunter und die Temperaturen fallen bis auf minus 80 Grad. Trotz dieser Extreme gehören die eiskalten Meere rings um den Kontinent zu den artenreichsten Gewässern der Welt. Im antarktischen Sommer 2008 hatte ich die Möglichkeit diesen einzigartigen Kontinent an Bord eines warmen, komfortablen Schiffes hautnah zu erleben…
13. Januar, Port Stanley (Falkland Inseln)
51°40´ südliche Breite, 57°50´ westliche Länge, Entfernung vom letzten Hafen 1.020 km
Knapp eine Woche bin ich schon unterwegs. Berlin, Paris, Rio de Janeiro, Buenos Aires… Während an der Copacabana und am Strand von Ipanema noch sommerliche Temperaturen herrschten, wird es nun merklich ungemütlicher. Die Falkland-Inseln liegen etwa 650 km östlich der Südspitze Argentiniens im rauen Südwestatlantik. Das Klima ist kalt und windig. An rund 250 Tagen im Jahr regnet es und es weht ein ständiger Wind mit einer Geschwindigkeit von durchschnittlich 30 km/h. Die Wintertemperaturen liegen im Schnitt bei 1,7° C, die Sommertemperaturen bei 9,4° C. Die Vegetation der Insel spiegelt die harten Bedingungen wider: Es gibt kaum Bäume, viele Gräser und niedriges Buschwerk.
Die Falkland-Inseln sind eines der letzten ungestörten Naturparadiese der Erde. Hier begegnete ich den ersten Pinguinen. Im Wasser sprangen Magellanpinguine und an der Sparrow Cove besuchte ich eine Eselspinguinkolonie, zwischen der sich ein stattlicher Königspinguin gesellt hatte. Die putzigen Tiere hörte und roch ich bereits aus großer Entfernung. Beim Näherkommen wurde ihr eselartiges Geschrei vernehmbar und die Luft stank nach Guano. Millionen von weißrosa Klecksen verrieten, dass sich die Tiere regelmäßig von Krill ernähren. Die kleinen Krebse ziehen neben Pinguinen die gesamte antarktische Prominenz bis hin zu den 100 Tonnen schweren Blauwalen in diese Gewässer. Davon zeugt der Walknochenbogen vor der Kathedrale von Port Stanley. Er besteht aus den Kieferknochen von zwei Blauwalen. In den Gewässern der Falkland-Inseln kommen insgesamt 14 regelmäßig auftretende Arten von Meeressäugetieren vor, u.a. Seeelefanten, Seelöwen, Schwertwale und mehrere Delfinarten, die hier regelmäßig vor der Bugwelle der Boote auftauchen. Leider hatte die örtliche Tauchbasis geschlossen…
14. Januar 2008, Auf See
(56°10´ südliche Breite, 56°17´ westliche Länge)
Die Temperatur fällt weiter. Bei starkem Wind, dichtem Nebel und Nieselregen kämpfen wir uns weiter Richtung Süden. Plötzlich wälzt sich der Rücken eines Wales empor und eine Blassäule steigt in den Himmel. Wir erreichten die antarktische Konvergenz. Hier treffen die kalten, dichten und nahrungsreichen Wassermassen aus der Antarktis auf die wärmeren, nahrungsärmeren Strömungen aus dem Norden. Dieser den gesamten Kontinent umgebene Bereich markiert im biologischen Sinne die Grenze zur Antarktis.
15. Januar 2008, Elephant Island
(61°61´ südliche Breite, 54°54´ westliche Länge)
Am Morgen sind die Süd-Shetland-Inseln in Sicht, ein wildes Gewirr von runden, schneebedeckten Kuppeln, hohen Bergspitzen, schimmernden Gletschern und nackten Felsen. Die Inselgruppe erstreckt sich 500 km in nordöstlich-südwestlicher Richtung entlang der Antarktischen Halbinsel. Die Inseln werden zwar von Großbritannien, Argentinien und Chile beansprucht, fallen aber unter den Antarktisvertrag, der keine staatliche Souveränität zulässt. Die Antarktis gehört niemanden. 1959 wurde der fünftgrößte Kontinent mit der Unterzeichnung des Antarktisvertrags zum Naturreservat erklärt. Im Jahre 1982 hat man den Schutz auf die umgebenden Ozeane ausgedehnt.
Wir passieren die ersten Eisberge. Gegen Mittag wird im Süden eine weiße Nebelwand sichtbar und es beginnt zu schneien. Das Wetter ist äußerst wechselhaft. Mal scheint die Sonne und eröffnet einen herrlichen Blick auf Elephant-Island, dann plötzlich zieht sich der Himmel innerhalb weniger Minuten wieder zu und es beginnt leicht zu schneien. Der Horizont ist mit dichtem Nebel verhangen. Als sich der Nebel lichtet, werden felsige Küsten und Bergspitzen sichtbar. Elephant Island besitzt aufgrund des rauen Klimas kaum Flora und Fauna, nur einige Eselspinguinkolonien und Robben leben hier.
Berühmt wurde die Insel als sie der Mannschaft Ernst Shackletons von April bis August 1916 als Zuflucht diente. Nachdem ihr Schiff HMS „Endurance“ vom Packeis eingeschlossen und zerstört wurde, rettete sich die Besatzung aufs Treibeis, welches sie an die Küste dieser Insel brachte. Der größte Teil der Gruppe verblieb auf Elephant-Island, während Shackleton mit fünf Gefährten in dem von der „Endurance“ geborgenen Rettungsboot „James Craid“ nach Südgeorgien aufbrach, um in der Walfängerstation Stromness Hilfe zu holen. 1.200 km über stürmisches, eisbedecktes Meer! Das Wagestück gelingt: Nach 16-tägiger Fahrt landen sie an der Nordwestecke Südgeorgiens. Am 30. August 1916 konnte Shackleton mit dem chilenischen Marneschiff „Yelcho“ die 22 Zurückgebliebenen retten, die viereinhalb Monate auf Elephant Island überlebt hatten.
16. Januar, Hope Bay, Antarktische Halbinsel
Am frühen Morgen kreuzten wir um die Nordspitze der antarktischen Halbinsel in den Antarctic Sound. Unser Ziel war die Esperanza-Station in der Hope Bay. Gewaltige Tafeleisberge, einige davon bis zu einem Quadratkilometer groß, trieben in dieser Wasserstraße. Die Eisberge boten zwar einen majestätischen Anblick, doch sind sie bereits einer Vielzahl von Schiffen zum Verhängnis geworden und haben ihre Mannschaften stranden lassen. Einige verlorene Seelen haben dem Ort schließlich nicht umsonst den Namen Hope Bay, Bucht der Hoffnung, gegeben. Das auch die moderne Seefahrt den Tücken des Eises ausgesetzt ist, zeigte erst wenige Wochen vor meiner Abfahrt in die Antarktis das Schicksal des Kreuzfahrtschiffs „Explorer“, das einen Eisberg rammte und sank.
Archtowski-Polarstation, King-George-Island
(62°09´ südliche Breite, 58°28´ westliche Länge)
Am frühen Nachmittag erreichten wir King-George-Island. Hier befindet sich heute die größte Konzentration von Forschungsstationen in der Antarktis, darunter das Dallmann-Labor des deutschen Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung. Unser Besuch erregte wohl etwas Aufsehen in der antarktischen Einöde, denn ein Hubschrauber der chilenischen Station umrundete unser Schiff. Später kam noch ein weiterer Hubschrauber und ein kleines Flugzeug hinzu. In der Admiralty Bay ankerten wir vor der polnischen Archtowski-Station und einige Wissenschaftler besuchten uns an Bord.
Die 1977 errichtete Polarstation ist nach dem polnischen Wissenschaftler Hendryk Arctowski benannt, der von 1897 bis 1899 als Mitglied der „Belgica“-Expedition zu den ersten Personen gehörte, der in der Antarktis überwinterte. Die „Belgica“ war einen Winter lang im Weddellmeer eingeschlossen und ist gewissermaßen zum Geisterschiff geworden. Die Mannschaft wurde von einer eigenartigen Melancholie befallen, die sich im Laufe der Wochen zu Depressionen und glatter Verzweifelung ausweitete. Die Diagnose des Arztes lautete: Polaranämie. Die Symptome waren bei allen ziemlich die gleichen: zunehmende Blässe des Gesichts, auffallende Fettigkeit der Haut, starker Haarwuchs wie bei Leichen, Anschwellungen an den Augen und Knöcheln sowie Kopfweh, Übelkeit und Schlaflosigkeit bei starkem Schlafbedürfnis. Ein Mann wurde von der Wahnvorstellung gepackt, die anderen Mannschaftsmitglieder wollten ihn umbringen, so dass er sich zum Schlafen jedes Mal in eine winzige Nische des Schiffes zwängte. Ein weiterer bekam hysterische Anfälle, die ihn für eine Weile taubstumm werden ließen. Am 5. Juni 1899 starb der belgische Physiker Emile Danco an Herzbeschwerden, die zum Teil auf seine Angst vor der Dunkelheit zurückzuführen waren. Er wurde nach Seemannsbrauch in einem Sack aus Segeltuch mit Gewichten an Beinen beschwert durch ein Eisloch im Meer begraben. Der Name „Dancoland“ – welches wir am Folgetag ansteuerten – bewahrt die Erinnerung an ihn.
Zur Bekämpfung der erschreckenden Symptome von Wahnsinn fingen die Männer der „Belgica“ an, im Kreis um ihr Schiff zu laufen. Die Strecke wurde später als die „Irrenhaus-Promenade“ bekannt. Des weiteren ordnete der Arzt an, dass – um die fehlende Sonne zu ersetzen – alle Patienten täglich eine Stunde nackt vor dem hellflackerndem Feuer sitzen und rundum ihre Haut bestrahlen lassen müssen. Dies zusammen mit einer Diät von Pinguin- und Robbenfleisch, Milch und Preiselbeersaft schlug jedenfalls so gut an, dass sich der Zustand der Mannschaft nicht verschlimmerte.
17. Januar, Im Palmer-Archipel
(64°39´ südliche Breite, 62°52´westliche Länge)
Wir nahmen Kurs nach Südosten und steuerten auf den Palmer-Archipel zu. Je weiter wir nach Süden vordrangen, um so tückischer wurde das Fahrwasser. Kleine Inselgruppen bildeten ein Gewirr von Unterwasserklippen, Eisberge kreuzten den Weg des Schiffes und die Wellen des Ozeans trieben Packeis herein. Keine leichte Aufgabe für unseren Kapitän. Auf dem Eis standen Pinguine, die die Vorbeifahrt unseres Schiffes beobachteten und Albatrosse zogen in ausgedehnten Flugschleifen um das Schiff.
Wir fuhren durch die Gerlache-Straße und den Neumayer-Kanal entlang der Küste von Dancoland. Jetzt im antarktischen Sommer schien die Sonne 24 Sunden. Am Nachmittag erreichten wir begleitet von einer Schule Orcas den südlichste Punkt unserer Reise, den Neumayer-Gletscher. Hier kehrten wir auf 64°39´ südlicher Breite und 62°52´ westlicher Länge um und nahmen wieder Kurs nach Norden. Während wir durch den von hohen Berggipfeln umgebenen Lemaire-Kanal fuhren, begegneten wir immer wieder riesigen Walen, die im nährstoffreichen Wasser nach Nahrung suchten. Ich versuchte die verschiedenen Arten anhand ihrer Blaswolken zu unterscheiden, was mir aber nur bedingt gelang. Früher tummelten sich die Fangflotten vieler Nationen in diesen Gewässern. Seit 1994 ein Walfangverbot in dieser Region erlassen wurde, scheinen sch die Bestände langsam wieder zu erholen.
18. Januar, Deception-Island
(62°56´ südliche Breite, 60°38´ westliche Länge)
Deception Island ist mit 98,5 km² eine der größten und imposantesten Vulkaninseln der Erde. Die Insel ist eine ringförmige Spitze eines aktiven Vulkans, dessen letzter Ausbruch im Jahre 1970 stattfand. Im Südosten ist der Vulkanring auf einer Breite von knapp 400 m unterbrochen. Durch diese Meerenge – Neptuns Blasebalg genannt – können Schiffe in den vom Meer überfluteten inneren Kratersee gelangen. Etwas vorgelagert liegen die steil aus dem Meer aufragenden Felsklippen „Sewing Machine Needles“ (Nähmaschinennadeln).
Am südöstlichen Außenrand der Insel befindet sich die felsige Landzunge „Baily Head“ mit einer der größten Brutkolonien von Zügel-Pinguinen der gesamten Antarktis. Die Population wird auf etwa 100.000 Brutpaare geschätzt.
19. Januar, Kap Hoorn
(55°59´ südliche Breite, 67°16´ westliche Länge)
Es folgte die Überfahrt von Deception Island quer über die ewig stürmische Drakestraße Richtung Kap Hoorn. Hier verloren in der Vergangenheit unzählige Seeleute ihr Leben. Die Männer wurden von den Stürmen der berüchtigten „Furious Fifties“, die zwischen dem fünfzigsten und dem sechzigsten Grad südliche Breite toben, direkt vom Deck in die tosende See gefegt. In der eiskalten See sollen mehr als 800 Wracks mit zehntausend Toten liegen. Die Umsegelung von Kap Hoorn konnte mehrere Wochen dauern und war mit großen körperlichen Strapazen verbunden. Die Kapumsegelung des Vollschiffs „Susanna“ im südlichen Winter 1905 dauerte ganze 99 Tage! Andere Kapitäne gaben auf und liefen die Westküste Südamerikas lieber über das Kap der Guten Hoffnung und Australien an. Selbst William Bligh, Kommandant der „Bounty“, hatte sich am 22. April 1788 nach mehr als vierwöchigem Kampf um das Kap entschlossen, lieber umzukehren und Tahiti über Afrika anzusteuern.
Doch die Antarktis verabschiedete sich liebenswürdig von uns. Außer dichtem Nebel und etwas Wind war die Überfahrt im allgemeinen recht ruhig. Selbst das Meer vor Kap Hoorn blieb glatt wie eine Tischplatte. Wir umrundeten nach altem Seemannsbrauch den Felsen und ließen das Nebelhorn dreimal ertönen. Wir waren wieder zurück in der Zivilisation.
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