Wrackerkundung an der Ostseeküste (1966)
Die Ostsee zählt zu den wrackreichsten Meeren der Erde und ist eine wahre archäologische Fundgrube. In der DDR gab es jedoch nur kleine Ansätze zur Erforschung der Wracks, denn die Ostseeküste war militärisch abgeschirmtes Grenzgebiet und Tauchen streng verboten. Die Arbeitsgemeinschaft für Unterwasserforschung der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin führte im Sommer 1966 Wrackerkundungen vor Hiddensee durch. Die Untersuchung war Teil einer Bestandserfassung archäologischer Unterwasserfundstellen in der DDR. Unter tauchtechnischer Leitung des Sekretärs der Arbeitsgemeinschaft für Unterwasserforschung, Martin Rauschert, wurden mehrere Wracks am Gellen dokumentiert. Der Gellen ist eine etwa 5 km lange und maximal 500 m breite Landzunge – ein sogenannter Sandhaken - am südlichsten Ende von Hiddensee. Er besteht aus nacheiszeitichen Sandablagerungen und wächst jedes Jahr weiter nach Süden.
Martin Rauschert besorgte die Genehmigungen zum Tauchen im Grenzgebiet und für das Campen im Schutzgebiet. Er fuhr mit Klaus Hamann zu einer Vorerkundung nach Hiddensee. Klaus Hamann war als Fotograf am Institut für Vor- und Frühgeschichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften beschäftigt. Die beiden Taucher befragten Fischer und Einheimische nach vielversprechenden Fundstellen. Martin Rauschert hatte bereits aufgrund seiner Doktorarbeit Kontakt mit dem auf Hiddensee ansässigen Herrn Schlieker vom Fischereiinstitut. Diese Verbindung öffnete ihnen die Türen zum Wissen der Einheimischen und Fischer. Hinweise von Herrn Schlieker und des Dünenmeisters Siebler ergaben Anhaltspunkte, dass vor dem Gellen mehrere Holzwracks liegen müssten.
Vermessungsarbeiten an einem Wrack vor Hiddensee (1966)
Im Juni 1966 begann dann die Tauchexkursion. Teilnehmer waren die Taucher der Arbeitsgemeinschaft für Unterwasserforschung der Deutschen Akademie der Wissenschaften in Berlin Martin Rauschert, Peter Scharf, Walter Richter und Klaus Hamann.
Martin Rauschert, Walter Richter, Peter Scharf und Klaus Hamann (1966)
Am 2. Juni 1966 wurde mit der Wracksuche begonnen. Anfänglich schwammen die Taucher mit einer 600 m langen, etwa 3 mm dicken Dederonschnur parallel zum Ufer. Bereits einen Tag später konnte das erste Wrack lokalisiert werden. Es lag nur in 20 m Entfernung vom Strand im knietiefen Wasser. Das Schiff war etwa 17 m lang.
Etwa 450 m vom Ufer entfernt fanden die Taucher in fünfeinhalb Metern Wassertiefe ein weiters etwa 7 m langes geklinkertes Schiffsteil aus Eiche mit fassähnlichen Eisenoxidkonkretionen. Auf dem Wrack und in den Fässern befand sich vermutlich Eisenerz bzw. Gegenstände aus Eisen. Bei späteren Sondierungen in den Jahren 1996, 1997, 2000 und 2002 konnte das Wrack nicht erneut aufgefunden werden.
Knapp 600 m vom Ufer entfernt lokalisierten die Taucher in etwa 6 m Tiefe ein weiteres Wrack. Es handelte sich um die Überreste eines Segelschiffes, bei dem Rumpf und Teile der Aufbauten zu erkennen waren. Im Umfeld und unter der Sedimentabdeckung lagen Schiffshölzer und Teile der Deckslast. Die Taucher bargen Stücke der Takelage, des Ankerspills und einen Stockanker, die den Schluss zulassen, dass es sich um ein Wrack aus dem 19. Jahrhundert handelte. Auch dieses Wrack konnte bisher nicht wiederentdeckt werden.
Wrackreste am Gellen (1966)
Bei der Wracksuche fiel den Tauchern etwa 200 m vom Strand entfernt in drei Metern Wassertiefe eine regelmäßige Ansammlung von Kalksteinplatten auf. Die Steinplatten besaßen eine Kantenlänge von 30 bis 60 cm und waren zwischen 10 und 20 cm stark. Es handelte sich bei den Steinen wohl um die Reste der Ladung eines gestrandeten Schiffs. Ein weiteres Wrack wurde in etwa 3 bis 4 m Tiefe gefunden. Von dem am Gellen untergegangenen Schiff ist ein 15,9 m langes und 3,6 m breites geklinkertes Fragment der Backbordseite erhalten geblieben.
Insgesamt wurden fünf Wrackfundplätze am Gellen erfasst. Leider konnten die Wracks aufgrund des Zeitmangels nicht näher untersucht und vermessen werden.
Klaus Hamann erinnert sich noch an einen kleinen Zwischenfall, der sich am Ende der Forschungsexkursion ereignete:
„Zum Ende unserer Zeit haben wir unsere großen Längen Schnur vom Gitter wieder eingeholt. Zwei Riemen, zwei Mann auf einer breiten Bank in dem schweren Kahn. Der Dritte holte die Schnur ein. Die war am Ufer an einem Pfahl fest gemacht. Es war stark ablandiger Wind der mit der Entfernung vom Strand zunahm. Plötzlich brach ein Riemen unter der Belastung. Das Boot war nicht mehr zu halten. Unsere Verbindung hing nur noch an der dünnen Schnur die wie eine Geigenseite gesungen hat. An der haben wir uns vorsichtig zurück gearbeitet mit der Angst, dass sie reißt. Sie hat aber gehalten. Sonst wären wir drei mit vollem zunehmenden Ostwind Richtung Westen getrieben. In Badehosen und wer weiß ob unsere Grenzer uns bemerkt hätten. Das hätte uns einen Riesenärger eingebracht.“
Die Wiederentdeckung und Untersuchung der von Martin Rauschert, Peter Scharf, Klaus Hamann und Walter Richter im Jahre 1966 erkundeten Wracks am Gellen war Gegenstand des Unterwasserarchäologischen Camps 1992 und eines weiteren Forschungsvorhabens 1996. Vom 12. bis 15. August 1996 wurden die Wracks von Mitgliedern des Landesverbandes für Unterwasserarchäologie Mecklenburg-Vorpommern e.V. im Auftrag des Landesamtes für Bodendenkmalpflege gesucht.
Das erste Wrack, dass die Taucher um Martin Rauschert im Jahre 1966 entdeckt hatten (Ostsee VI Hiddensee, Fpl. 18), könnte möglicherweise zu einem Schiff gehören, das mit dem Fund des berühmten wikingerzeitlichen Goldschmucks von Hiddensee im Zusammenhang steht. 1977 wurde vor der Fundstelle ein Eichenspant ans Ufer gespült. Er wurde mittel C-14 auf 1000 +/- 60 Jahre datiert. Der berühmte Goldschmuck von Hiddensee wurde um 970/980 gefertigt. Dieser Zeitraum fällt in die Herrschaftszeit des legendären Dänen-Königs Harald Blauzahn (917 – 987). Der als Wikinger geborene und dem Christentum beigetretene Blauzahn gilt als Begründer des dänischen Reichs.
Auf Hiddensee war in den Jahren 1872 und 1874 ein Goldschatz aus dem 10. Jahrhundert gefunden worden, der dem legendären Dänen-König bzw. seinem engen Umfeld zugeschrieben wird. Der Schatz besteht aus einem Halsring, zehn kreuzförmigen Anhängern, einer Scheibenfibel und vier Zwischengliedern und gilt als eines der schönsten und kostbarsten Zeugnisse wikingischer Goldschmiedekunst. Insgesamt wurden 16 Stücke gefunden, die von Dr. Rudolph Baier für das damalige Provinzialmuseum für Neuvorpommern und Rügen (heute Kulturhistorisches Museum Stralsund) erworben wurden.
Um den Schatz ranken sich viele Geschichten bezüglich seiner Fundumstände. Angeblich soll ein glänzendes Metallstück nach einer Sturmflut am 13. November 1872 am Strand von Neuendorf freigespült und einen Tag später von der Fischersfrau Striesow gefunden worden sein. Mehrere Wochen soll es unbeachtet in ihrem Hause gelegen haben, bis einer ihrer Söhne bemerkte, dass es sich um Gold handelte. In Unkenntnis über die Bedeutung des Fundes habe sie ihr Fundstück an einen Goldschmied zum Materialpreis verkauft. Die anderen Stücke fand man zeitlich versetzt über einen Zeitraum von mehreren Monaten. Sie wurden über der Insel verstreut wiederentdeckt. Fraglich ist, ob der Schatz wirklich stückweise oder vielleicht doch auf einmal gefunden wurde, dann aber Stück für Stück verkauft worden ist. Es wird die Theorie vertreten, dass die Sturmflut lediglich als Anlass genommen sein könnte, um den wertvollen Fund, der möglicherweise schon länger von den Inselbewohnern versteckt worden war, zu legalisieren. Für diese Annahme würde insbesondere sprechen, wenn es in dieser Zeit eine Veränderung des Strandrechts gegeben hätte, dass die Aneignung und Verwertung von Strandgut erschwert hätte.
Unklar ist auch, wie der Schatz nach Hiddensee gelangt ist. Auf der Insel sind verschiedene Legenden und Sagen verbreitet. Eine Sage berichtet, dass ein reicher Kaufmann mit seiner Handelsflotte um 1000 aus einem Hinterhalt im Gebiet zwischen Hiddensee und Mönchsgut von Seeräubern gestellt wurde. Hierbei soll der Kaufmann den Goldschatz verloren haben. Der Goldschatz wird auch als eine Piratenbeute der Ranen gedeutet. Die gängigste Theorie besagt, dass der Schatz dem dänisch-norwegischen König Harald Blauzahn zugeordnet wird. Der Überlieferung nach befand sich Blauzahn im Jahre 986 auf der Flucht vor seinem verfeindeten Sohn Sven Gabelbart. Hiddensee dürfte auf der Fluchtroute gelegen haben. Dafür spricht auch ein weiterer Fund, der 2018 bei Schaprode auf Rügen gemacht wurde. Hier fanden Sondengänger einen aus etwa 600 Münzen bestehenden Schatz, der ebenfalls König Blauzahn zugerechnet wurde. Die Fundstellen liegen nur wenige Kilometer entfernt.
Möglicherweise wurde der Goldschmuck von Hiddensee und der Münzschatz von Schaprode auf der Flucht Harald Blauzahns vergraben. Oder der Goldschatz befand sich auf einem Schiff, das vor Hiddensee gestrandet ist. Die Datierung des im ufernahen Bereich gefundenen Wrackteils passt jedenfalls zur Herstellungszeit des Goldschmucks. Und die Orte haben auf der Fluchtroute Blauzahns gelegen. Ob die Parallelen rein zufällig sind oder es tatsächlich eine Verbindung zwischen Harald Blauzahn, dem Goldschatz von Hiddensee und dem 20 m vom Ufer entfernt gefundenen Wrackteil besteht, ist bisher nicht geklärt.
Literatur:
Blum, Roger: Hinab in die Vergangenheit, Berlin (2022)
Rauschert, Martin: „Wrackerkundung bei Hiddensee“ in Poseidon 1966, S. 241 ff.
Förster, Thomas: „Große Handelsschiffe des Spätmittelalters“, S. 121 und 307.
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