Als nach über 11 Stunden das Flugzeug langsam an Höhe verlor und mit dem Landeanflug auf Cancun begann, starrte ich noch auf eine dunkelblaue Wassermasse. Dann plötzlich zeichnete sich der weiße Saum sich brechender Wellen ab. Dahinter wurde das Wasser abrupt hellgrün, aber immer wieder von hellbraunen Punkten und Streifen durchzogen. Die Streifen waren das, worauf ich solange gewartet hatte: Korallenbänke. Nördlich von Cancun beginnt das zweitgrößte Barriereriff der Welt, das El Gran Recife Maya. Es erstreckt sich mit einigen fehlenden Zwischenstücken bis nach Belize und Honduras. Noch träumte ich davon, dort unten zwischen riesigen Fischschwärmen zu tauchen und im Landesinneren von dichtem Dschungel überwucherte Maya-Ruinen zu erklimmen.
Nach der Ankunft wurden aber meine Träume zunächst zunichte gemacht. Ich fand mich in einer wahren Ferienfabrik mit Hunderten Hotelhochhäusern, modernsten Kongressbauten, Discos und klimatisierten Einkaufszentren. Einen romantischen Platz, um eine Hängematte im Schatten einer Palme aufzuhängen, findet man in Cancun wahrscheinlich nicht. Jedoch stellte ich schon am nächsten Tag überglücklich fest, dass die meisten Touristen wohl keine weiteren Ausflüge unternehmen, als bis zur Poolbar oder zum hoteleigenen Strand. In der Maya-Tempelanlage El Rey, am Rande der Hotelzone, waren Leguane neben meiner Freundin und mir die einzigen Besucher. Auch die vor den Toren Cancuns gelegene Isla Mujeres wurde bisher noch nicht von Touristen überrannt. Während der etwa 30minütigen Fährfahrt von Puerto Juarez schrumpfte die Bettenburg-Skyline Cancuns auf ein beruhigendes Maß und ich fand dort auch wirklich eine leere Hängematte zwischen zwei Palmen in die ich mich legen und über die Herkunft des Namens "Isla Mujeres" (Insel der Frauen) spekulieren konnte. Geht er vielleicht auf Piraten zurück, die ihre Frauen hier ließen, während sie auf Beutezug gingen? Manche behaupten sogar, die Insel sei ein geweihter Ort heiliger Maya-Jungfrauen gewesen. Der wahrscheinlichsten Erklärung zufolge bekam sie aber ihren Namen von den spanischen Eroberern, die 1517 in dem Mayatempel am Südzipfel der Insel Tonfiguren weiblicher Gottheiten entdeckten.
Ein sehr beliebtes Ziel für Taucher ist die "Höhle der schlafenden Haie" (Cueva de los Triburones Dormidos), die sich etwa fünf Kilometer nordöstlich der Insel in dreiundzwanzig Meter Tiefe befindet. Schon Albert Falco, Cousteaus Cheftaucher, schwärmte in seinem Buch "Mein abenteuerliches Leben auf der Calypso" von den schlafenden Haien Yucatans. Selbst Tigerhaie, Karibische Riffhaie und auch die massigen Bullsharks sollen dort anzutreffen sein. In der Höhle befindet sich auch die Urne des berühmten mexikanischen Meeresforschers Romano Bravo, der dort 1988 bestattet wurde. Der mexikanische Präsident Ernesto Zedillo tauchte damals höchstpersönlich ins Meer, um sie abzustellen. Die Inschrift der Sterbetafel lautet: "Romano Bravo, Schützer des Meeres und der Ozeane, schlafe in dieser Höhle für immer an der Seite deiner Haie." Ich selbst sah vor der Isla Mujeres und Cancun nur kleine und mittelgroße Ammenhaie. Die dafür umso häufiger.
Insgesamt werden von Cancun und der Isla Mujeres über dreißig Tauchplätze angefahren. Wegen der starken Strömung sind fast alles Drifttauchgänge. Ich konnte mich einfach durch die Kanäle oder über das Riffdach treiben lassen und die vielen Schwämme, Gorgonien und Hirnkorallen betrachten. Barrakudas sind in allen Größen häufig anzutreffen, auch Muränen, Zackenbarsche, Skorpions- und Kofferfische sowie die bereits erwähnten Ammenhaie. Zu den eindrucksvollsten Tauchplätzen vor Cancun gehört aber ein Wrack, das als "Gun Boat 58" bekannt ist. Der ausgediente Navy-Frachter steht in 27 Meter Tiefe völlig aufrecht und unbeschädigt auf weißem Sandgrund, so, als wolle er gleich wieder in See stechen. Da er erst vor wenigen Jahren für Taucher versenkt wurde, ist der Bewuchs noch recht dürftig, dafür bietet das Wrack unzähligen Fischen ein neues zu Hause. Um die Decksaufbauten kreiste ein Schwarm Stachelmakrelen und während des Sicherheitsstopps machte uns ein stattlicher Barrakuda seine Aufwartung. Aber Achtung: Auch hier herrscht eine starke Strömung!
Wer sich für Wracks interessiert, dem empfehle ich ein Besuch des CEDAM-Museums in Puerto Aventuras. Dort sind die 1959 vom mexikanischen Tauchklub CEDAM (Club de Exploraciones y Deportes Acuaticos de Mexico) geborgenen Schätze der spanischen Galeone "Nuestra Senora de los Milagros" ausgestellt, auch bekannt als Matancero. Das Schiff war am 22. Februar 1741 bei Akumal auf ein Riff gelaufen und gesunken. Die Ladung bestand aus Kanonen, Rum, Wein usw. sowie einer umfangreichen Schmucksammlung. Der Eintritt ist übrigens frei.
CEDAM Museum in Puerto Aventuras
Die taucherische Besonderheit Yucatans sind aber nicht irgendwelche Korallenriffe und Wracks, sondern die Cenoten, meist kreisrunde, steilwandige Süßwasserbecken, die durch den Einsturz von Höhlendecken entstanden sind. Sehr treffend verglich schon vor hundert Jahren ein Geograf Yucatan mit einem Schweizer Käse. Bisher wurden über 80 Höhlensysteme entlang des Cancun-Tulum-Korridors registriert, darunter Nohoch, dessen 18 Kilometer umfassendes Netz von Tunneln und Höhlen es zum größten Unterwasser-Höhlensystem der Welt macht. Normalerweise wäre ich an ihnen vorbeigefahren, denn allein den Gedanken, freiwillig in eine Höhle zu tauchen, fand ich absurd. Die Rechnung war einfach: Dunkelheit + Enge = Höhle = nichts für mich. Nur Jan's Artikel in den Flossenblättern hat mich ein etwas neugierig gemacht und so schloss ich einen Kompromiß: "Schnupperschnorcheln" in der Grand Cenote bei Tulum. Sie heißt auch Sac-Aktun, weiße Höhle, wegen des hellen Gesteins und Bodens. Mit Maske, Schnorchel und Flossen umschwamm ich also den seeartigen Eingangsbereich und wurde gleich von neugierigen Süßwasserfischen wie Guppies begutachtet. Sie stürzen sich auf alles, was vom umliegenden Dschungel ins Wasser fällt. Meine Vorurteile hinsichtlich des Höhlentauchens relativierten sich, als ich die fantastischen Formationen aus Stalagmiten und Stalaktiten im vorderen, sonnendurchfluteten Bereich der Höhle sah und ich wollte unbedingt mehr sehen.
Eine Woche später stand ich dann an der selben Stelle, nun aber in voller Tauchermontur. Als Nicht-Höhlentaucher ist es erlaubt, sich in dem Teil der Höhle aufzuhalten, in den das Tageslicht einfällt. Man nennt diesen Bereich Grotte, denn erst wo das Tageslicht endet, beginnt die eigentliche Höhle. Beim Hineintauchen war es durch das abnehmende Tageslicht etwas unheimlich. Ich bemühte mich um einen schonenden Flossenschlag - den sogenannten "Frogkick" - um nicht das Sediment aufzuwirbeln. Die in die Höhle einfallenden Lichtreflexe und die spektakuläre Unterwasserlandschaft mit den allgegenwärtigen Tropfsteinen waren unbeschreiblich. Mit dem Guide vom AKTUN DIVE CENTER drang ich langsam bis zum eigentlichen Höhleneingang vor. Dort steht ein Schild, das den Sensenmann zeigt, der mit der typischen Fingerbewegung zum Näherkommen auffordert. Um ihn herum liegen einige Skelette mit Tauchgeräten. Das Schild war eine eindeutige Warnung an alle Nicht-Höhlentaucher nicht weiterzuschwimmen, denn an dieser Stelle erlosch auch das letzte Fünkchen Tageslicht. Ich befand mich in einer Traumwelt ohne Sonne. Das Wasser war hier glasklar und der Lichtkegel meiner Lampe wanderte durch die Dunkelheit. Er traf ab und zu auf einen Schwielenwels, der gespenstige Schatten an der Felswand hinterließ. Fast eine Stunde dauerte dieser unvergessliche Tauchgang in der Grand Cenote. Überwältigt von den Erlebnissen besuchte ich noch am selben Tag die Casa Cenote. Sie besitzt - im Gegensatz zur Grand Cenote - kein rundes, sondern ein flussartiges, gewundenes Becken, welches von Mangroven gesäumt ist. Da sich ein Ausgang im Meer befindet, kann man hier auf Süß- und Salzwasserfische treffen.
Heute ist bekannt, dass zur Maya-Zeit zahlreiche Männer, Frauen und Kinder unter den Gebeten der Priester in die Cenoten gestoßen wurden, um sie dem Regengott Chac zu opfern. Manche Opfer wurden getötet, ehe sie dem Wasser übergeben wurden. Auf einer Scheibe aus purem Gold, die Taucher in der Heiligen Cenote von Chitzen Itza fanden, ist eine solche Szene denkbar anschaulich dargestellt: Man hielt das Opfer auf dem Rücken liegend fest, während ein Priester blitzschnell mit einem Messer den Leib aufschnitt und das noch zuckende Herz herausriss, um es der Sonne darzubieten. Chitzen Itza ist übrigens die größte und interessanteste Mayastätte Yucatans. Umgeben von Dschungel erhebt sich auf einem zentralen Platz die Pyramide des Kukulcan. An deren Nordflanke fährt eine fast senkrecht erscheinende Treppe, deren Stufen hoch, ungleichmäßig und beschädigt sind, zu einer feuchten Grabkammer. Sich ein wenig wie Indiana Jones zu fühlen und vor allem die wunderbare Aussicht, belohnen die Mühen des Auf- und vor allem Abstiegs.
In unmittelbarer Nähe der Pyramide befindet sich der Tempel der Krieger, einem der schönsten Beispiele maya-toltekischer Architektur, und die Halle der tausend Säulen, ein Name der etwas übertrieben ist. Weitere interessante Bauwerke sind das Observatorium (El Caracol), der Ballspielplatz und die Schädelmauer. Die T-förmige Plattform, die als Stätte ritueller Menschenopfer diente und ringsum mit Schädelreliefs verziert ist, ist makabrer Ausdruck des in der toltekischen Phase immer weiter ausufernden Opferkults.
Auf Yucatan gründeten die Maya vermutlich um 440 n.Chr. die Stadt Chichén Itzá.
Architektonisch weniger bedeutsam, aber dennoch sehr sehenswert, ist die Maya-Festungsstadt Tulum. Die Tempelanlage thront auf einer zerklüfteten Klippe über dem türkisblauen Karibischen Meer und gehört dank dieser einmaligen Lage zu den schönsten Maya-Anlagen Mexikos. Einen herrlichen Rundumblick über die Tempelanlage, die Steilküste und die kleine Bucht, die früher als Hafen diente, hat man von dem unmittelbar über dem Meer liegenden Tempel des Windgottes, der auf einer halbrunden Plattform steht.
Tulum - Tempel des Windgottes
Die Karibikküste der Yucatan-Halbinsel hat also alles, was einen Urlaub zum Traum werden lässt: herrliche Korallenriffe und kristallklare Süßwassergrotten, sagenhafte Ruinenstädte, weiße Strände und Karibikflair. Die Faszination des Landes wird man allerdings erst dann erleben, wenn man - wenigstens für ein paar Stunden - der künstlichen Atmosphäre der größeren Badeorte entflieht.
Text: Roger Blum / Fotos: Roger Blum und Steven Blum
Erstveröffentlichung in "Adlershofer Flossenblätter" Ausgabe 43/2001 und 42/2001.
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